Reales Erpressen, symbolisches Morden und Geheimnisse des Imaginären. Die US-Fernsehserie THE SOPRANOS – von Jan van Loh
DIE INITIALE SZENE / TV-SERIEN ALS ZWANGHAFT SICH WIEDERHOLENDE STIFTER UNBEWUSSTER WUNSCHERFÜLLUNGEN / INZESTUÖSES VERLANGEN UND KASTRATIONSANGST: DIE VÖGEL / THERAPIE ALS TV-SERIE / DIE DRITTE PILLE / TV-SERIEN ALS THERAPIE-SURROGAT / FAZIT / LITERATUR
Synopsis: Als Protagonist der TV-Serie „The Sopranos“ weiß sich der Gangsterboss und Sohn sizilianischer Einwanderer Tony aus New Jersey in Anbetracht seiner Panikattacken nicht anders zu helfen, als eine ebenfalls italienischstämmige Psychotherapeutin aufzusuchen. Die in den USA vor allem bei gebildeten Zuschauern sehr populäre Serie wird zum Anlass genommen, TV-Serien als kulturelle Erscheinung anhand der psychoanalytischen Filminterpretation des Lacanianers Slavoj Zizek in ihrer Bedeutung für die klinische Therapie zu untersuchen. Dabei fällt nicht nur auf, dass TV-Serien strukturelle Ähnlichkeiten mit bestimmten Therapieformen haben, sondern dass im Falle der Sopranos auch die therapeutische Situation in einer Weise dargestellt wird, die das Bild des Berufsstandes des analytisch arbeitenden Therapeuten in den USA in positivem Sinne mitgeprägt hat. Auf besondere Weise mit psychologischer Dynamik gefüllt, verweist die Darstellung der Behandlung der antisozialen Hauptfigur Tony Soprano den cineastisch-therapeutischen Interpreten vor allem an das Werk von Alfred Hitchcock. Das Scheitern der „Sopranos“ im deutschsprachigen TV wird im Kontext von Freuds Kulturtheorie im Hinblick auf die unterschiedlichen, in der Serie gebrochenen Tabus diskutiert. Ist die Art, wie die Serie an ein zweischichtig entschlüsselbares Über-Ich appelliert, realistisch, nachvollziehbar, und für Analytiker der Zukunft interessant, relevant oder gar lehrreich? (Englischer Titel und Synopsis am Ende des Beitrages)
REALES ERPRESSEN, SYMBOLISCHES MORDEN UND IMAGINÄRE GEHEIMNISSE – DIE US-FERNSEHSERIE „THE SOPRANOS“
In der FAZ vom 11. April 2007 verglich Tilmann Lahme die US-Fernsehserie „The Sopranos“ mit den Buddenbrooks. Vom Pay-TV-Sender HBO produziert und auf diesem seit dem 10. Januar 1999 ausgestrahlt, war die Serie um den „Capitano“ Tony Soprano mit guten Portionen von Gewaltverbrechen, Sex-Darstellungen, Fäkalsprache und italienischem Essen erstmals vier Tage nach den Attentaten 11. September 2001 im deutschsprachigen Fernsehen zu sehen. Während sie in den USA zum Flaggschiff von HBO und zu einer der erfolgreichsten Fernsehserien überhaupt avancierte, floppte sie im deutschsprachigen Raum auf allen Kanälen durch alle Sendeplätze und ist bis heute nur einer kleinen Fangemeinde ein um so besserer Begriff. Es lässt aufhorchen, dass sie in den USA vor allem bei der Kritik und solchen Zuschauern besonders viel Anklang fand, die sonst keine TV-Serien konsumieren. Selbst das MoMA in New York zeigte die ersten drei Staffeln und lud den Sopranos-Erfinder David Chase zu einer Podiumsdiskussion ein.
Für klinisch arbeitende Psychotherapeuten ist vor allem die im Zentrum der Serie stehende, sich stetig weiterentwickelnde Szene interessant, nämlich die des Gangsters, der eine Therapeutin aufsucht. Während noch in David Lynchs „Twin Peaks“ der „Shrink“ als Freak mit zwei verschiedenfarbigen Brillengläsern sein Fett weg bekam, wird der Figur der Therapeutin hier mit einer Achtung und Ernsthaftigkeit begegnet, die man im Hollywoodfilm „Reine Nervensache“, in dem Robert de Niro als Gangster einen Therapeuten konsultiert, ebenso wenig antrifft wie in den eigensinnigen Komödien von Woody Allen, um nur einige zu nennen.
Ich möchte versuchen, einige Aspekte der Sopranos herauszugreifen, die ein wenig zum Verständnis beitragen – nicht dem der Serie, sondern der Frage, warum sie bei den deutschen Fernsehzuschauern so wenig Anklang fand und vielen psychotherapeutischen Kollegen nicht bekannt ist. Dabei werde ich unter anderem auf Thesen des Medientheoretikers Slavoj Zizek zurückgreifen, den ich in Berlin zu den Sopranos befragt habe. Der nicht-praktizierende lacanianische Therapeut und bekennende Hitchcock-Apologet aus Slowenien ist einer der wenigen international bekannten Philosophen, die sich öffentlich auf psychoanalytisches Gedankengut berufen und damit argumentieren. Seine Medientheorie scheint daher besonders geeignet, wenn es um eine Serie geht, in der das Fernsehen hinter die Kulissen der Therapie blickt – und nicht, wie sonst – die Psychoanalyse hinter Filme oder das Fernsehen. Auf meine Frage, ob er die Sopranos kenne, sagte Zizek:
„I don’t know why I couldn’t get fully into it. Something is missing for me to be fully fascinated.“ (dt.: „Ich weiß nicht, warum ich nicht richtig hinein gekommen bin. Es fehlt mir etwas, um völlig fasziniert zu sein.“)
Selbstverständlich kannte er die Serie, und er gab mir gleich eine Theorie der Medienerscheinung Fernsehserie mit auf den Weg, mit der er begründete, dass er sie nicht weiterverfolgt hatte. Die Faszination, die dazu führt, dass man von einer Serie „angefixt“ („fully fascinated“) und in ihre Personen-Konstellation hinein gezogen wird, ist für Zizek das entscheidende Kriterium. Bleibt sie aus, so lässt sich im Umkehrschluss ableiten, findet man als Zuschauer kein Interesse und verfolgt die Serie nicht weiter, wählt entweder eine andere oder gar keine. Einer therapeutischen Beziehung vergleichbar entscheidet sich zu Beginn, ob es beim Zuschauer mit den Figuren der Serie zu einer Übertragungsbeziehung kommt oder nicht.
Was fehlte Zizek an den Sopranos, um völlig fasziniert zu sein? Es verwundert zum einen wenig, dass der erklärte Pop-Philosoph Zizek mit dem Ambiente der Serie nichts anzufangen weiß. Mafia, das gesamte bürgerlich-rechtskonservative Establishment, in dem das organisierte Verbrechen sowohl in der Serie, als auch in der Realität wurzelt, ist für einen bekennenden sozialistischen Moralisten augenscheinlich uninteressant (Er äußerte im Interview vielmehr Sympathie für die späten Staffeln der Serie „24“). Allerdings ist es andererseits durchaus erstaunlich, dass die kardinale Szene, von der die Serie inauguriert wird, für einen nicht praktizierenden Psychoanalytiker und intellektuellen Filmkritiker keinen Reiz haben soll – nimmt sie doch die Psychoanalyse psychoanalytischer als diese sich selbst je verstehen könnte.
DIE INITIALE SZENE
Bei unserer ersten Begegnung mit der Serie treffen wir auf ihren Protagonisten. Er sitzt zu Füßen der Bronze-Plastik einer nackten Frau im Wartezimmer – gewissermaßen zwischen ihren Beinen. Ebenso skeptisch tastet Tonys Blick Momente später die Umgebung ab, als er den kreisrunden Behandlungsraum betritt. Offensichtlich weiß er nicht, was er in diesem Raum soll – und wendet sich fragend an die bekleidete Frau aus Fleisch und Blut zurück, die an der Tür stehen geblieben ist. Sie fordert ihn auf, sich zu setzen. Ohne ein Wort fragt er, auf welchen der beiden freien Sessel, was sie ihm frei stellt. Er entscheidet sich für den Sessel mit dem Rücken zur Tür, setzt sich und legt das rechte Bein mit dem Fußgelenk auf das linke Knie. Das sieht irgendwie unbequem aus – eine Abwehrhaltung. Er mustert weiter die Umgebung, als würde irgendwo Gefahr lauern. Nun ist es die Therapeutin, die ihn herausfordernd ansieht, so dass Tony Anzeichen von Nervosität zu zeigen beginnt und ihrem Blick zunächst ausweicht. Über die Brille hinweg baut die Therapeutin schließlich eine Brücke in die Unterhaltung und spricht Tony auf den Anlass seines Kommens an, die für die Serie auslösende Situation: seine Panik-Attacken.
So wird etabliert, was in nahezu allen Fernsehserien, die nicht mit Seifen-Opern oder Tele-Novelas zu verwechseln sind, als tragendes Gerüst fungiert, und worauf auch der Kritiker der FAZ mit seinem Buddenbrooks-Vergleich anspielt. Im Zentrum der neuen amerikanischen Serien steht die Familie oder deren Ersatz. Im Falle von Tony Soprano wird in einer doppelten Hinsicht in epischer Breite entfaltet, dass er nicht nur Teil einer, sondern von zwei verschiedenen Familien über drei Generationen ist. Auf der einen Seite seine leibliche Familie, seine Ehefrau und seine beiden Kinder und seine Mutter, auf der anderen die Mafiafamilie, in deren verbrecherischem Geflecht er sich zum Ziel gesetzt hat, zum Paten, zum symbolischen Vater des Clans aufzusteigen. Seine Mutter Livia, die noch immer in dem Haus wohnt, in dem Tony groß geworden ist, soll allerdings zunächst von den unerklärbaren Anfällen noch nichts wissen, was sich im Verlauf der ersten Folge ändert, als sie gemeinsam das Altenheim besuchen, in dem sie gegen ihren Willen untergebracht werden soll, und Tony in der Lobby einen weiteren Zusammenbruch erleidet.
Die zweite Familie des Protagonisten ist von der ersten nur teilweise scharf abgrenzbar. Sein Neffe Christopher, der den ersten feigen Mafiamord der Serie begeht, um ein richtiger Gangster zu werden, und Tonys Onkel Junior, Pate des Clans, gehören zu Tonys Blutsfamilie ebenso wie zu seiner Mafia-Familie, die in Krankenhäusern und Stripclubs, Fleischereien und Altenheimen, auf Müllhalden und Friedhöfen dem HOME SWEET HOME des Wohnzimmer-Genres Soap-Opera den Rang abläuft. Nicht nur im kreisrunden Behandlungszimmer wird dabei vom ersten Moment an verheimlicht und gelogen, dass sich die Balken biegen. Im Laufe der ersten Staffel entfaltet sich etwas Monströses, was am Ende der ersten Folge hinter Tonys Rücken als Intrige seinen Lauf nimmt: Onkel Junior und Mutter Livia beschließen aus unterschiedlichen Motiven, dass Tony „gehen muss“ – der Protagonist soll einem Auftragsmord mit dem Segen der eigenen Mutter zum Opfer fallen. Wir haben es also mit einer Familie zu tun, in der tödliche Geheimnisse gewahrt und teilweise erst noch in die Tat umgesetzt werden müssen. Die eine einzige Figur, die NICHT zu einer dieser beiden Familien gehört ist immerhin italienischstämmig: Tonys Therapeutin Dr. Melfi.
TV-SERIEN ALS ZWANGHAFT SICH WIEDERHOLENDE STIFTER UNBEWUSSTER WUNSCHERFÜLLUNGEN
Die Sopranos läuten das Ende der Tradition Freudscher Clichés und den Beginn der zeitgenössischen Therapie im Fernsehen ein. Schließlich stellt die Szene zwischen Tony Soprano und Dr. Melfi die klassische freudsche Situation – eine junge Hysterikern wird von einem älteren, Zigarre qualmenden Herren analysiert – auf den Kopf. Diese Abkehr scheint Zizek den Einstieg nicht gerade leicht gemacht zu haben, da sie sein lacanianisches (Selbst-)verständnis vom Phallus als Primärsignifikanten, der in der Therapie vom Therapeuten durch Deutung eingeführt wird, auf den Kopf stellt. Es kann angenommen werden, dass sie auch für die deutschen Fernsehzuschauer gewöhnungsbedürftig gewesen sein dürfte. Gangster in der Therapie? Naja. Aber zu einer Frau? Wenn die therapeutische Szene fiktional und entsprechend verdichtet wie ein Traum ist, kann jede darin dargestellte Szene entsprechend wie ein Traum im Traum mit den Mitteln der Traumdeutung enträtselt werden. Träume, die an der Ostküste der USA entstanden sind. Die Art, wie hier erzählt wird, stellt auf faszinierend nachvollziehbare und wahrhaftige Weise öffentlich aus, was in einem psychotherapeutischen Behandlungsraum und in Situationen geschieht, in denen sich Therapeutin und Patient außerhalb des Settings begegnen. Die Darstellung der Therapie ist so gelungen, dass der Umstand ihrer Fiktionalität schnell in den Hintergrund tritt. Die von Hollywood geprägten Sehgewohnheiten werden dadurch unterlaufen, dass sich nicht alles um ein zentrales Subjekt dreht, das in einer Situation der Hilflosigkeit (in die es möglicherweise aus eigenem Begehren geraten ist) Stärke zeigen muss. Vielmehr ist es genau umgekehrt – die von Licht- und Schattenseiten ambivalent gestaltete Hauptfigur hat in einer Situation, in er sie alle Möglichkeiten und Stärken zur Verfügung hat, genau eine unerklärliche Schwäche, um die, wie beim blinden Fleck des Sehens, die gesamte Serie zirkuliert.
Das Rätsel der Wirkbedingungen von Tonys Blackouts sind das eigentliche Ereignis, das den Sog erzeugt. Die sonst bedrohliche oder feindselige Außenwelt männlicher Helden in Hollywood ist in eine psychologische Innenwelt umgeschlagen, in der vom Zuschauer nach Bedingungsstrukturen gesucht wird, so dass Wünsche teilweise erfüllt werden, andere aber in weiten Teilen offen bleiben. Ein Unwissen – das Unbewusste – trägt sich nicht, wie etwa in den Filmen Hitchcocks, in einem Äußeren zu und stürmt von dort auf das Subjekt des Protagonisten und den Betrachter ein. Es dreht sich vielmehr alles um die schrittweise Symbolisierung eines Unbewussten, das in einem zentralen Subjekt und dessen unbewusstem Konflikt aufgehoben ist, über den die Zuschauer zunächst ebenso wenig wissen wie der Protagonist selbst. Der äußere Konflikt ist von einem inneren abgelöst worden und wird agiert. Diese stets unvollständig bleibende Aufhebung des Unbewussten im bewältigten Konflikt reguliert das Genießen seines Subjektes dadurch, dass der Gangster Tony alles und jeden vor sich her treibt, und damit das ganze Begehren regiert – auch das der Analytikerin.
Die Leerstelle der zentralen Unerklärlichkeit – Blackout bzw. Panikattacke – kann als eines der drei lacanschen Objekte (das Objekt klein a) aufgefasst werden, die Zizek in Hitchcocks Filmen aufdeckt: „eine Lücke im Zentrum der symbolischen Ordnung, der bloße Anschein eines zu erklärenden Geheimnisses.“ (Zizek, S. 58). Als ein Beispiel für ein solches Objekt, das die Handlung in Gang setzt, nennt Zizek den Plan für Flugzeugmotoren im Hitchcock-Film „39 Stufen“. Darüber hinaus gibt es in den Sopranos auch das Objekt zweiten Typs: „das symbolische Objekt, das nicht auf die imaginäre Spiegelbeziehung reduziert werden kann (…), die Unmöglichkeit, um die herum die symbolische Ordnung strukturiert wird. (…) Es ist ein radikal kontingentes Element, aus dem die symbolische Notwenigkeit hervorgeht.“(Ebd.) Bei Hitchcock kann das Gipsbein des Fotografen in „Das Fenster zum Hof“ als ein solches Objekt zweiter Ordnung verstanden werden; im Falle der Sopranos ist es die Analytikerin Dr. Melfi, die nicht zu Tonys Familie gehört. Und dann gibt es auch das Objekt dritten Typs: „es ist keine indifferente Leere und zirkuliert auch nicht zwischen den Subjekten“, (…) „sondern ist nur die stumme Verkörperung eines unmöglichen Genießens“ (…) „das durch sein plötzliches Eindringen die homöostatische Indifferenz der Relationen zwischen den Subjekten zerschlägt“ (Zizek S. 55). Ein solches drittes Element ist eine Entenfamilie, Pendant der Vögel aus Hitchcocks gleichnamigem Film.
INZESTUÖSES VERLANGEN UND KASTRATIONSANGST: DIE VÖGEL
Zu Beginn der ersten, abgebrochenen Therapiesitzung berichtet Tony von einer Episode, die sich am Tag seiner erste Attacke zutrug. Eine Entenmutter war einige Wochen zuvor mit ihren Jungen auf seinem Swimming-Pool gelandet, hatte es sich gemütlich gemacht und offenbar seine „zarte Seite“ berührt. Am Tag der Panik-Attacke seien die Vögel plötzlich davon geflogen. Die auslösende Situation.
Am Ende der ersten Folge, inzwischen auf dem Weg der Aufdosierung mit Prozak, berichtet Tony einen Traum und offenbart damit die ganze Dimension seiner Daseinsform als mediale Schichtung aus Mafia-Filmzitaten, Anekdoten historischer Mafiosi und Inhalten eigenen TV-Konsums, die bereit ist, sich auf ein Gespräch einzulassen: im Traum sei sein Bauchnabel – der Nabel des Traums – eine Kreuzschlitzschraube gewesen, die er abgeschraubt hätte, woraufhin sein Penis abgefallen sei. Er sei dann auf der Suche nach dem Automechaniker mit dem Penis in der Hand herum gelaufen und schließlich sei ein Vogel gekommen, habe den Penis mit seinem Schnabel genommen und sei davon geflogen. Er selbst bringt nach der Schilderung den Einfall ein, dies könne etwas damit zu tun haben, dass er neulich „die Vögel“ gesehen habe.
Indem Tony mutmaßt, dass der Tagesrest (unter Tagesrest wir in der Psychoanalyse jenes Traummaterial verstanden, das von der Traumarbeit unmittelbar den Erlebnissen des Vortages entnommen wird) aus Hitchcocks „Die Vögel“ etwas mit seiner Traumarbeit zu tun haben könnte, bringt er uns auf eine Fährte seiner Figur, die an dieser Stelle bereits über so viel Eigendynamik verfügt, dass sie einer wirklichen Person zum verwechseln ähnlich zu werden beginnt. Denn während die Therapeutin über die Technik der Deutung an der Linie der Metaphern- und Metonymieverkettung entlang auf die entflogenen Enten zurück kommt, und damit auf das Motiv von Familie und Verlustangst, können wir uns fragen, ob die Enten drehbuchseitig nicht ihren Ursprung bei Hitchcock und damit bei einem strafenden Über-Ich haben, nämlich als jene Vögel, die wahllos Menschen angreifen, und damit bei dem, was Zizek als dritten Typ des hitchcock-lacanschen Objektes der Filmtheorie bezeichnet: als „stumme Verkörperung eines unmöglichen Genießens, die unbewegte, imaginäre Vergegenwärtigung des Realen, ein das Genießen verkörperndes Bild“ (Zizek (1988): Liebe dein Symptom wie dich selbst, S. 58).
Im Falle von Tony verkehrt sich in Bezug auf dieses Objekt etwas in sein Gegenteil, denn während in den Serien „LOST“ oder „24“ eine äußere Bedrohung anschwillt und nicht mehr aufhört, bringt Tony seine große Angst mit dem Verschwinden der Vögel und dem imaginären Verlust seines Phallus in Verbindung, als sei für ihn die größte Bedrohung nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit eines Signifikanten. Dass Dr. Melfi, zu der es kein logisches Pendant gibt, auf die Deutung des entflogenen Penis’ (auch als geflügelter Primärsignifikant bei Lacan zu verstehen) verzichtet, ist die Kehrseite dieses Fehlens einer Bedrohung, die Zizek womöglich den Zugang zu den Sopranos verwehrt (Zizek bekannte sich im Gespräch als Fan mehrerer Staffeln von „24“). Wenn allerdings Dr. Melfis Deutung der von Tony unter Tränen spontan als zutreffend kommentierten Angst vor dem Verlust der Familie eher vor dem Hintergrund der Bindungstheorie Bowlbys (der die Erkenntnisse Konrad Lorenz‘ in die Psychoanalyse integrierte) bzw. der Borderline-Theorie Kernbergs (der den Begriff Borderline maßgeblich psychoanalytisch entwickelt hat) zu verstehen ist, bleibt für medienaffine psychoanalytische Kliniker festzustellen, dass der verloren geglaubte Penis und die Vögel als Symbol unmöglichen Genießens im Verlauf der Serie zugunsten der Beziehung des Protagonisten zur Analytikerin ungedeutet bleiben. Tony, der von sich wahrheitsgemäß behauptet, in der Müllwirtschaft tätig zu sein, scheint in seinem ebenso wahren Umfeld, dem Spieler- Drogen- und Rotlichtmilieu, das, was ihm davon fliegt, nicht länger genießen zu können. Was aber würde er genießen, wenn er könnte?
THERAPIE ALS TV-SERIE
Es kann, darf und muss angenommen werden, dass psychotherapeutische Patienten Soap-Operas, Telenovelas und Fernsehserien konsumieren. Von der Art, dem Umfang und der Frequenz, als auch dem Inhalt des jeweiligen Serien-Formats hängt ab, welche Rolle sie im Leben eines Menschen spielen. Er oder sie wird eine oder mehrere Serien wählen, mit deren Figuren er sich identifizieren, und mit deren Hilfe er / sie sich psychisch stabilisieren kann und deren Eigenschaften unter Umständen mit denen des Therapeuten / der Therapeutin kongruieren bzw. konkurrieren. Allgemein haben TV-Serien zudem eine besondere Eigenschaft, denn sie erstrecken sich, wie Psychotherapien, aber im Gegensatz zu Spielfilmen, über längere Zeiträume. Bei Zizek heißt es im 1991 publizierten Merve-Band: „Liebe dein Symptom wie dich selbst“ nun:
„Beginnen wir mit dem Fernsehen als dem privilegierten Ort der alltäglichen ideologischen Erfahrung, stellen wir uns eine Frage, nicht jedoch die Frage: Was können wir von Lacan über das Fernsehen lernen? – das würde uns auf den falschen Weg der so genannten angewandten Psychoanalyse bringen. Sondern stellen wir uns die Frage: Was können wir vom Fernsehen über Lacan lernen?“ (Zizek, S. 49)
Ob Zizeks ebenso wortgewandte wie polemische, da Subjekt und Objekt gegeneinander vertauschende, kulturtheoretische Lacan-Lektüre ein möglicher Zugang zur Mafia-Serie sein kann, muss sich zeigen. Man kommt im Falle der Sopranos um die angewandte Psychoanalyse nämlich nicht herum, denn die Serie hält dem Beruf des Psychoanalytikers den Spiegel vor, der zwar verdichtet, aber nicht verzerrt – auch wenn es keine Couch mehr gibt. Womöglich rührt daher ein weiterer Widerstand Zizeks bei seiner ausbleibenden Faszination für die doppelte Familiengeschichte. Die therapeutische – angewandte – Szene anhand der Dialektik der Subjekt-Objekt-Vertauschung zu denken, stellt zwar in Aussicht, das Subjekt zum kleinen anderen in eine Beziehung zu setzen, die Verständniswege eröffnet. Es bringt es allerdings auch mit sich, dass wir anhand der fiktionalen therapeutischen Szene der Sopranos möglicherweise etwas über die Theorie Zizeks lernen können. Sich diesbezüglich nicht ablenken zu lassen bedeutet nichts weniger als das Beharren auf jener dritten Pille, die der slowenische Philosoph in der sehenswerten Dokumentation „The Pervert’s Guide to cinema“ im Anschluss an die im Film Matrix aufgemachte dichotome Möglichkeit, zwischen Traum und Wirklichkeit zu wählen, fordert (Zizek. In: Fiennes, Teil 1). Mit dieser Pille würde er beide Wege wählen. Im Falle der Sopranos scheint es nun aber gar nicht möglich, die beiden Fragestellungen nach angewandter versus kulturtheoretischer Psychoanalyse voneinander abzukoppeln, denn die Repräsentation der therapeutischen Szene ist eine Übercodierung, die auf eine Unabgeschlossenheit hin konstruiert ist – welche letztlich die Frage nach der endlichen und unendlichen Analyse im Kontext der Serialität aufwirft.
Die Therapie ist der Ort der Symbolisierung, an dem der Zuschauer im Verlauf der Serie über 85 Folgen Zeuge wird, wie sich der zentrale Charakter einerseits weiterentwickelt, sich andererseits jeder Veränderung erfolgreich widersetzt. Unabhängig davon, ob das, was die Therapeutin zu diesem Verlauf beiträgt, psychoanalytisch angewandt richtig oder falsch, angemessen oder agiert ist, drängt sich die Frage auf – warum ist Tony dort?
Auslöser sind die Panikattacken – in der Serie; in einer Therapie wären sie das Symptom. Tony beginnt von dem Tag zu sprechen, an dem sie zum ersten Mal auftraten. Die Visualisierung dieses Berichts bedient sich einer Technik, die in der Filmtheorie als elliptisches Erzählen bekannt ist. In anderen Worten werden bestimmte Teile der Erzählung ausgelassen – ein Umstand, dem wir auch in der Therapie immer wieder begegnen, wenn Patienten ihre Version eines Geschehens darstellen, dabei aber das Verdrängte notgedrungen weglassen, möglicherweise, da es unbewusst ist. Zwar wurde diese Erzähltechnik in der Serie nicht weiter verfolgt. Doch der Zuschauer wird zu Beginn als dritter im Bunde einer unvollständigen Triangulierung Zeuge, wie Tony die Analytikerin über bestimmte Dinge absichtlich im Unklaren lässt. Dabei geht es nicht nur um Macht, sondern auch um den Stand von Bewusstheit, die Befürchtung, nicht angenommen zu werden und um Scham und Schuldgefühle. Die Geheimnisse von Tony Soprano sind nun aber wie die Federn im Inneren einer automatischen Handfeuerwaffe, durch die die Energie des Rückstoßes so umgelenkt wird, dass der nächste Schuss abgefeuert werden kann, ohne erneut den Hahn der Waffe aufziehen zu müssen. Entscheidend für die Wirkung der Serie auf den Zuschauer ist aber vor allem auch ein anderer Umstand. Die bewusste Auslassung der kriminellen Handlungen in der Erzählung von Tony, nicht aber im Bild, wird im narrativen Prinzip der Serie nicht gewertet. In anderen Worten kommt es zu keiner Verurteilung jener Verbrechen, die Tony vor der Therapeutin verheimlicht. Im Gegenteil scheint Dr. Melfi durch einen (in der deutschen Synchronfassung unrichtig übersetzten) Hinweis auf ihre Schweigepflicht den Gangster dazu aufzufordern, sie zu verheimlichen. In der Psychotherapie gilt die Regel, das angekündigte Verbrechen es erfordern, die Schweigepflicht zu verletzen, um Leib und Leben anderer zu schützen. Bereits begangene Verbrechen unterliegen allerdings der Schweigepflicht – worin sich die Therapie in keiner Weise von der Beichte unterscheidet. Dadurch schiebt sich der Ort des Therapeuten an die Stelle des Zuschauers, denn es ist bekanntlich eine Domäne der Psychotherapie, sich wertfrei zu halten, um zu verstehen, was sich hinter „Schandtaten“, zu denen letztlich auch Lügen, Unterschlagungen und Leugnungen zählen, an emotionalen Konstellationen und Übertragungsinhalten verbirgt.
Durch die wertfreie Haltung gegenüber den Verheimlichungen und Lügen aller Charaktere wird ein ständiger Konflikt im Zuschauer platziert, der auf ein Ungerechtigkeitsgefühl aufbaut. Obwohl er nach moralischen Schemata der Böse ist, der andere krankenhausreif schlägt, der lügt, betrügt, Schutzgeld erpresst und mordet, ist Tony Soprano, das T-Subjekt, Sympathieträger der Serie. Das moralisch integre, vom reinen Begehren erfüllte Subjekt Hitchcocks treffen wir – so möchte man meinen – allenfalls in der Therapeutin an. Anhand der psychotherapeutischen Situation dieser symbolischen Ordnung der Subjekte werden auf der medialen Ebene Symbolisches und Reales nun in einer Weise gegeneinander verschoben, dass beim Betrachter nicht nur ein Teil der Position der angeblich ahnungslosen Therapeutin, sondern vor allem auch ein Bewusstwerdungsvorgang in Gang gesetzt und gehalten wird, wie er üblicherweise vom Patienten auf der Couch erlebt wird und der dadurch zur Symbolisierung gelangt. Als Zuschauer identifizieren wir uns also sowohl mit Tony als auch mit Dr. Melfi und fragen uns: Kann es sein, dass alle Beteiligten unentwegt das Gegenteil von dem tun, was sie sagen?
DIE DRITTE PILLE
Es drängt sich die Frage auf, in welcher Form in den Sopranos das Begehren artikuliert wird. Tonys Wunsch, die Panikattacken loszuwerden, ohne etwas zu verändern, bringt es mit sich, dass die Therapeutin ihrem ungeduldigen Patienten Prozak verschreibt. In der ersten Folge nimmt Tony auf dem Golfplatz die erste Pille ein. Möglicherweise hängt Zizeks ausbleibende Faszination für die Serie auch damit zusammen, dass diese Prozak-Tablette – filmtheoretisch gesprochen – als jene von Zizek geforderte dritte Pille angesehen werden kann, die das gleichzeitige Erleben von Traum und Wirklichkeit auf der Mattscheibe herbeiführt (auch wenn „Matrix“ (1999) etwas später ins Kino kam als die erste Folge der Sopranos ins Fernsehen). In dem Moment, da Tony sie einnimmt, und von nun an glaubt, dass es das Medikament ist, das ihm gegen seine Attacken hilft, kommt Paulie, der alte Freund seines Vaters, auf den Golfplatz und ruft: „DICK IS LOOKING FOR YOU!“ (Dick ist einerseits eine familiär-vulgäre amerikanische Bezeichnung für das männliche Geschlechtsorgan, andererseits ein Kosename für Männer mit dem Namen Robert.) Woraufhin prompt das Reale wiederkehrt: vor einem riesigen Haufen Recyclingflaschen macht Arthur, genannt Artie, Restaurantbesitzer und einziger Jugendfreund des Protagonisten, Tony einen Strich durch die Rechnung, denn er lässt sich nicht wegschicken, um zu verhindern, dass sein Restaurant weggebombt werden muss, so dass Junior nicht einen von Tonys Leuten erschießen lassen kann. Zuweilen muss Feuer eben, so die Logik, mit Feuer bekämpft werden.
Der Kastrationstraum vom entwendeten Penis legt im Zusammenhang mit den unmittelbaren Auswirkungen der dritten Pille also folgenden Deutungsinhalt nahe: „Dick is looking for Tony – Tony looking for his dick – will they ever get together again?“ (Dt.: Penis sucht Tony, Tony sucht seinen Penis – werden sie je wieder zusammen kommen?) Doch damit nicht genug von einer Männlichkeit, die das T-Subjekt sucht – und niemals findet. Im Gespräch mit seinem jüdischen Mafia-Freund Hesh hatte Tony über die bevorstehende Liquidierung eines seiner Kollegen verhandelt, der den Namen „Big Pussy“ und damit die Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan trägt. Im Originalton heißt es: „Do you think he is going to fuck with big Pussy – my Pussy?“ Über ein weibliches Partialorgan scheint er in Form eines Objektes zu verfügen – einen Mafia-Freund – und zwar über ein solches, von dem sich später in der Serie herausstellen wird, dass es nicht nur ein stattlicher Mann, sondern auch Spitzel des FBI ist, den Tony daraufhin eigenhändig niederschießt und im Meer verschwinden lässt. In dieser Namensgebung, die häufig wörtlich zu verstehen ist, finden wir auch den Ansatz für eine mögliche Deutung des singenden Familien-Namens der Serie: hinter den Fassaden der Macho-Gangster der Sopranos, deren Chef seinen Penis verloren hat, verbergen sich hysterische Frauen, die in hohen Tönen singen, respektive schreien. Hesh, der Tony bis zum Ende der Serie als Berater erhalten bleibt, hat die Idee, Artie dazu zu bewegen, sein Restaurant zu schließen, um den Verlust der großen Muschi zu verhindern. Ohne Erfolg. Das Restaurant wird gesprengt, um Big Pussy das Leben zu retten.
TV-SERIEN ALS THERAPIE-SURROGAT
Ähnlich wie eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie hat die Serie insgesamt 85 Folgen a 50 min Dauer. Werbeunterbrechungen gab es bei der Ausstrahlung keine. In sofern sind die Sopranos kein klassisches TV-Format öffentlicher Sender, das als inhaltliche Klammer der Werbepausen fungiert. Die Bezahl-Serie Sopranos kommt ohne Cliffhanger, sprich nicht zu Ende erzählte Szenen aus, die erst nach der Werbung narrativ geschlossen werden. Ganz wie eine psychotherapeutische Sitzung ist jede Folge eine Verknüpfung der Entwicklung von retrospektivem Verstehen und aktueller Situation des T-Subjekts, die als einzelne verstanden werden kann, vor allem aber im Kontext aller Sitzungen verstanden werden muss, will man den Wegen des Unbewussten und der Übertragungsinhalte folgen. Anders ausgedrückt sind die Sopranos eine symbolische, analytisch fundierte (tiefenpsychologische) Therapie – eine speziell angewandte Psychoanalyse. Um das zu verstehen, muss man Psychoanalyse bzw. Psychotherapie praktizieren – anders als Zizek, der unter diesen Umständen selbst verstummen und zuhören müsste, wie nicht er selbst, der Analytiker, spricht, sondern das Subjekt auf der Couch. Für Zizek, den unentwegt redenden Analytiker, könnte man also folgende Frage formulieren: Warum spricht Tony?
Dieser Frage sei eine andere gegenübergestellt, die aus der Warte der angewandten Psychoanalyse heraus formuliert so lauten könnte: warum wird Tony schwarz vor Augen und er zur Black Box seines eigenen Begehrens? Zizeks Frage ist scheinbar einfach zu beantworten. Es bleibt ihm schlicht nichts anderes übrig. Denn das Unbewusste lässt sich nicht erpressen, täuschen oder gar morden. Aus dem Off, dem ödipalen Universum des inneren Dialogs, setzt der pathologische Narzisst und unberührbare Gangster (ähnlich wie Henry Hill in Martin Scorseses Gangster-Epos Good Fellas) seine Sprache ein, um die stummen Löcher des Realen zu füllen. Die Weise allerdings, wie Tony mit der Therapeutin spricht, zeugt in Anbetracht der genannten Lügen und Auslassungen von einem Gelingen ebenso wie von einem Scheitern, was ihn zu einer tragischen Figur ebenso wie zu einem guten Comedy-Protagonisten macht, der sich jedem Versuch der Veränderung erfolgreich widersetzt. Sein Sprechen ist das Regressionsverlangen eines leicht kränkbaren Subjekts, das ständig auf Abwehr geschaltet ist und seinen Meister in sich selbst findet: in der Macht der Ohn-Macht.
Ein Vertreter der von Zizek zurückgewiesenen, angewandten Psychoanalyse, der US-amerikanische Herausgeber des Internationalen Journals für Psychoanalyse Glenn Gabbard, hat aus seiner klinischen Perspektive einige Grundzüge der Psychodynamik von Tony und seinen Familienmitgliedern aufgezeigt. In „The Psychology of the Sopranos“ diagnostiziert Gabbard bei den männlichen Subjekten einen Narzissmus, der gegen die Nothingness – das Nichts ankämpft (Gabbard, S. 15f.). Das Leben, das sie leben, ist ihnen zu klein, zu unglamourös. Jeder einzelne möchte im Mittelpunkt stehen, sucht nach Anerkennung, und kreist dabei in der Sicht von Gabbard um eben jenes Nichts, das auch als jene innere Leere verstanden werden kann, welche im Zentrum des Borderliner-Syndroms steht. So kommt es, dass Tony anhand des DSM4 der Frage unterzogen wird, ob er als Psychopath zu diagnostizieren ist (Gabbard, S. 27 ff.). Ergebnis: diese extreme Form des Narzissmus, bei der nicht nur kein Mitgefühl, sondern Lust an der Qual anderer zum Symptombild gehören, trifft auf Tony nicht zu.
Diese Untersuchung im Angesicht der Perversion zeigt zwar zum einen, dass es begrenzt Sinn macht, eine mediale Gestalt mit einer derartigen Diagnose auszustatten, ist sie eben ja nur eine mediale, von Drehbuchautoren geschaffene Gestalt, in deren Psychodynamik sich der Zuschauer spiegelt. Gabbards Versuch ist also ebenso moralisierend wie er theoretisch am Thema vorbei geht, denn er scheint die eigene Sympathie für das T-Subjekt in Bezug auf dessen Über-Ich im Angesicht destruktiver Impulse ethisch zu hinterfragen, um das eigene Begehren zu entlasten. Diese Rechtfertigung scheint notwendig, wenngleich, wie Diedrich Diederichsen in seinem Beitrag über die Sopranos anmerkt, die Absicht der Schöpfer von Tony und seiner Familie darin zu bestehen scheint, den Niedergang des amerikanischen Bürgertums anhand von ganz normalen Gangstern in Szene zu setzen (Vgl. Diederichsen (2012): The Sopranos).
Es wir greifbar, wie exakt die Sopranos-Autoren die narzisstische Dynamik der unterschiedlichen Charaktere der Serie herausgearbeitet haben, so dass sie von einem Analytiker für so voll genommen werden, dass er sie mit der Wirklichkeit einer lebenden Person, die er in Behandlung hat, zu verwechseln beginnt. Gabbard analysiert die Fiktion wie eine Wirklichkeit und stellt dadurch Kunst und Psyche therapeutisch auf eine Stufe. In dem Maße, wie die Panikattacken für die Serie die auslösende Situation sind, wären sie für einen Therapeuten das Symptom eines Patienten. Der Umstand, dass die beiden Positionen Real Life und Bigger than Life von so hoch dotierter Seite wie dem Präsidenten der amerikanischen psychoanalytischen Gemeinschaft miteinander verwechselt werden, spricht vor allem für die hohe Qualität des Kunstprodukts mit dem Namen The Sopranos und der Darstellungskunst seines Protagonisten, dem inzwischen verstorbenen Schauspieler James Gandolfini, der nicht nur zum Paten seiner fiktionalen Familie, sondern auch zum Godfather der amerikanischen Fernsehnation aufstieg.
Bei seiner Analyse von Hitchcocks Psycho schlägt Zizek eine horizontale Systematik der Örtlichkeiten eines Films vor. Damit meint er Obergeschosse, die das Über-Ich, Keller, die das Es, und Erdgeschosse, die Schauplätze des Ich repräsentieren. Da im Obergeschoss des Wohnhauses der Sopranos-Familie die Kinderzimmer und das Schlafzimmer liegen, und im Keller die Waschmaschine und das Fitnessfahrrad, scheint ein solcher Zugang zunächst schwierig, wenngleich der Keller von Tony immer wieder dazu genutzt wird, wichtige geheime Absprachen mit anderen Mafiosi in seinem Keller zu treffen. Wichtiger erscheint jedoch, dass sich das Hinterzimmer des Bada-Bing-Stripclubs, dessen geheimer Chef Tony ist, zu ebener Erde und damit auf der Stufe des Ich befindet. Wenn bei Tonys erstem Zusammenbruch die Kamera in die VOGEL-Perspektive eines strafenden Über-Ichs wechselt, sind immerhin noch Schemata eines solchen Zugangs zu erkennen, die jedoch vor allem im Längsschnitt auf ein unbewusstes Erbe verweisen.
Setzt man den Schnitt im Gegensatz zu Zizek medientheoretisch in Längsrichtung an, fällt der Blick nicht nur auf das Serielle und damit den Wiederholungszwang als faktum durum. Sondern auch auf eine Transmedialität, die das Wohnhaus von Tony und seiner Familie mit anderen Wohnhäusern und die Enten auf dem Pool mit anderen Vögeln in eine Reihe stellt. Die Ähnlichkeit des Holzhauses aus Tonys Kindheit, mit seiner Treppe gleich hinter der Eingangstür und dem Kamin im Wohnzimmer ist jenem verwandt, in dem sich Melanie Daniels und Mitch Brenners Mutter Lydia in den Vögeln erstmals begegnen – ein Umstand, der nach Zizeks treffender Analyse von Mitchs Mutter mit Argwohn betrachtet wird. Es kann angenommen werden, dass die erste Begegnung der Blondine Carmela (Tonys Ehefrau) mit Tonys Mutter einen Einbruch von Vögeln nach sich zog, der längst Geschichte ist und in den Enten wiederkehrt. Das Verhältnis der beiden italienischen Frauen, die vergeblich um Tony streiten, ist noch immer genau so aufgeladen wie das der Blondine Melanie Daniels zu Mitchs Mutter Lydia, in der sich der Name Livia durchaus wiedererkennen lässt. In anderen Worten kann Tonys Verhältnis zu seiner Mutter als eine Fortsetzung der Geschichte aus den VÖGELN aufgefasst werden – mit umgekehrten Vorzeichen. Der bei Hitchcock beginnende Familienroman ist ein in Serienfolgen aufgegliedertes Ringen um die Signifikationen der Beziehung von Mutter und Sohn in Anbetracht einer Blondine und damit genau so strukturiert, wie Freud es postulierte: der Wiederholungszwang (der Serie) ist dem unbewussten Verdrängten zuzuschreiben – das wir als Zuschauer zu Beginn aber genau so wenig kennen wie Tony. Allerdings sind wir im Falle der Sopranos einen Schritt weiter, denn nicht nur der symbolisierte, eingeschriebene, inneren Halt gebende, auch mentalisiert zu nennende Affekt im Diskurs vom Ich ist ein anderer, vor dessen Spiegelung Zizek im Angesicht der Sopranos notgedrungen den Blick senkt, muss wiederholt werden, sondern auch die unsymbolisierte, in der Projektion abgewehrte, haltlose, gespaltene und externalisierte, fehlende innerpsychische Struktur des Borderliners Tony – ohne zu verstehen, was genau er wiederholt und warum. So wird Zizeks These, dass das Kino dem Zuschauer niemals das gibt, was er begehrt, sondern ihm zeigt, wie er begehren soll, in Form der Serie unaufhörlich hinterfragt.
ÜBERTRAGUNGS-INHALTE: DIE MUTTER DES ANTISOZIALEN BORDERLINERS
Zizek und Gabbard finden keinen passenden Schlüssel zum T-Subjekt, obwohl Übertragungsinhalte in der Serie erkennbar sind, deren mythologische Tiefe Schöpfer David Chase nur andeutet. In den ersten Folgen steuert Tonys Mutter Livia die für den Wiederholungszwang charakteristische Struktur bei: sie leistet Widerstand – und zwar gegen die Unterbringung im Seniorenheim. Als Tony das Altenheim in der zweiten Folge erbittert als Retirement-Community, als Rückzugs-Gemeinschaft verniedlicht, geht Livia dazu über, ihren Widerstand mit einem Todeswunsch zu verknüpfen: „Geh in die Küche zum Schinken und hol das Messer und stich es mir hier rein. Hier! (Sie schlägt sich auf die Brust) Es würde mich weniger verletzen als das, was du sagst.“ (Tony hatte ihr gerade damit gedroht, sie entmündigen zu lassen.) In dieser Verbindung von Todestrieb und Widerstand gegen ein Tabu wurzelt die zentrale Dynamik der Serie: die Mutter versucht, ihren eigenen Sohn umbringen zu lassen. Versteht man ein Tabu nach Freud als die schambesetzte und verschwiegene Beziehung von Begehren und Verbot, und den Auftragsmord der Mutter als von Rache erfüllten Versuch, das Tabu zu wahren, kommt ein antikes Pärchen ins Spiel: Nemesis, die Rachegöttin, bestraft die Hybris ebenso wie Vergehen gegen Themis, die Göttin der Gerechtigkeit, und pflegte eine enge Beziehung zu Aidos, der personifizierten Scham (Vgl. Fink (1993), S. 214). In seinem ersten Bericht auf seinem Platz in der Therapie setzt Tony Scham als Vorwurf rhetorisch ein, um praktisch im gleichen Atemzug die Überrundung des Vaters und das Gefühl zu Sprache zu bringen, ihm niemals ebenbürtig werden zu können. Beschämung und Widerstand gegen Beschämung sind also Motor des Geschehens, dessen beteiligte Figuren der an gesellschaftlichen Tabus und deren Verletzung ansetzen – auch dem des Stigmas psychischer Krankheiten unter Gangstern.
Die Tabus der in der Serie dargestellten italo-amerikanischen Mafia sind in einem juristischen Prinzip verankert, das von Rechtshistorikern als TALION bezeichnet und von vielen Zuschauern, die nicht notwendigerweise der Mafia angehören, implizit anerkannt wird. Ein zentrales der ungeschriebenen Gesetze des Talion ist so einfach wie wirkungsvoll, stammt aus dem alten Testament und lautet: AUGE UM AUGE, ZAHN UM ZAHN (Exodus 21,23–25.). Das Konstrukt hinter dieser Aufrechnung ist nicht die symbolische Spiegelstrafe, bei der dem Dieb die Hand abgeschlagen wird; dies ist eine Systematik der Bestrafung, die auf das Individuum fokussiert ist. Der Talion ist vielmehr eine Form geregelter Vergeltung zwischen Clans und sozialhistorisch zwischen den animistischen Gesetzesvorstellungen der polynesischen Erfinder des Wortes TABU und dem zivilisierten NEUROTIKER Freuds angesiedelt, der die Spiegelstrafen im Hinblick auf die historische Stufe der sozialhygienischen und erzieherisch-korrigierenden Strafen hinter sich gelassen hat. Während Freud in „Totem und Tabu“ nun neben der Beziehung von Begehren und Verbot mit Frazer davon ausgeht, dass ein Clan eines bestimmten Namens zu einem unreinen Objekt oder einem anderen Clan eine symbolische Beziehung zu dessen anderen „verbotenen“ Namen eingeht bzw. nicht eingeht (Freud (1913a), S. 303 ff., 342 f. und S. 404 f.), wird diese sehr urtümliche Rechtsvorstellung in den Sopranos mit dem modernen Gerechtigkeitsverständnis in ein fortwährendes Spannungsverhältnis gesetzt. Es erscheint sinnvoll, Freuds spekulative Verbindung der Mythologie der Bruderhorde, die den Vater tötet, mit dem Thema Schuldbewusstsein (Ebd., S. 424 ff.) im Kontext der Dynamik der beiden Familien von Tony zu beleuchten. Die Sopranos füllen einem Gegenentwurf zur Zivilisation, dessen differenzierte Binnenstruktur in einer Bruderhorde besteht, die sich einen Codex verbotener Beziehungen auferlegt, bis zum Rand aus. In anderen Worten macht sie ihre eigenen Ehrengesetze im Schatten bestehenden Rechts, und weiss genau, was verboten und was erlaubt ist – sie nennen es Geschäft. Zur Logik dieses doppelten Über-Ichs gehören zum einen – wie in der Psychoanalyse auch – eine Schweigepflicht, die OMERTÁ, und andererseits die VENDETTA, das Gesetz der Blutrache. Die Herkunft dieser Strukturen kann einem Über-Ich zugeschrieben werden, das aufgrund narzisstischer Kränkungen des Es zur Waffe greift, dem aber durchaus bewusst ist, dass es Gesetze gibt, die es missachten wird, wenn es die eigenen Impulse agiert und sich dabei möglicherweise auch gegen den eigenen Clan positioniert.
Die Gesetze des Talionsprinzips mit seinen Vergeltungen und seinem loyalen Schweigen kann nur in bestimmten gesellschaftlichen Systemen entstehen und Bestand haben, denn sie beinhalten wie die Vorstellung der Polynesier die Idee des Clans, dessen Ehre verletzt wird, und der dafür seinen Tribut einfordert. Blutrache ist nicht die Angelegenheit des Einzelnen, sondern Konsequenz der Konkurrenz zwischen den Clans, ihre Ehre und die Beschränkung der Strafe: es soll nicht MEHR heimgezahlt werden als das, was einem Mitglied des Clans angetan wurde. Ein Auge für ein Auge, nicht mehr. Ein Leben für ein Leben, nicht mehr. Wird innerhalb des eigenen Clans eine Todesstrafe verhängt, hat der Vater des Clans für dessen Hinterbliebene zu sorgen, so ein weiteres ungeschriebenes Gesetz des Talion.
Die auf diese Weise inhaltlich zu füllende Struktur eines Gerechtigkeitsprinzips, das zwischen dem Begehren nach Selbstjustiz und dem zivilisiertem Vertrauen in die Gerechtigkeit staatlicher Jurisdiktion oszilliert, stellt den oben angedeuteten Konflikt dar, den das narrative Prinzip der nicht wertenden Darstellung der Figuren ermöglicht. In Form einer Hypothese ausgedrückt, die auch manchem Analytiker als gewagt erscheinen mag, könnte es so lauten: es scheint unter anderem diese moralisch nicht-wertende Konstruktion zu sein, die bei amerikanischen Fernsehzuschauern ganz anders ankommt als bei Zizek und beim europäischen Publikum.
Exkurs: Wie sehr der deutsche Fernsehzuschauer üblicher Weise dazu gezwungen wird, das moralische Urteil über eine Figur den Drehbuchautoren und Zensurbehörden zu überlassen, anstatt eine eigenständige Ethik zu entwickeln, und sich an diesen Umstand längst gewöhnt zu haben scheint, zeigte sich in einem Interview, das der „Spiegel“ mit Dominik Graf anlässlich der Ausstrahlung seiner in Deutschland produzierten Russen-Mafia-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ führte. Die Journalisten unterstellten dem Regisseur fehlende moralische Integrität, da er seinen Zuschauern zutraute, dem Gesehenen gegenüber eine eigene Meinung bzw. Haltung zu entwickeln. Eine solche (Erzähl-) Position scheint in der deutschen Medienlandschaft für sich genommen bereits ein Tabu zu verletzen (vgl. Spiegel online). Diese Tendenz der deutschen Fernsehkultur, den Zuschauer zu entmündigen, kann in doppelter Weise als Effekt des Nationalsozialismus verstanden werden. Denn nicht nur wurden viele deutsche Filmschaffende zur Emigration gezwungen und mussten ihr Talent in der amerikanischen Filmindustrie an den Zuschauer bringen, sondern es wurde nach der Zeit der Nazi-Propaganda scheinbar auch davon ausgegangen, dass das deutsche Publikum entmündigt werden muss, um es auf diese Weise medial zu entnazifizieren. Mit welchem Erfolg soll an dieser Stelle offen bleiben.
TABU, VERGELTUNG UND DIE ZWEI SCHICHTEN DES ÜBER-ICH
Nimmt man Tony als jenen von Gabbard beschriebenen Narzissten, sprich als Sohn einer Nymphe, also ursprünglich einer animistischen Naturgottheit, die von einem Flussgott vergewaltigt wurde, so ist der symbolische Kern des kastrationsangstbehafteten Gangsters auf der Couch eine vergleichsweise kleine Gestalt der griechischen Mythologie, die zu großem Einfluss gekommen ist. Dieser NEUREICHE EMPORKÖMMLING nimmt es zum einen mit König Ödipus, dem unbewussten Vatermörder, und zum anderen mit Medea, der Kindermörderin aus der Wildnis am Ende des Flusses auf.
Da Ödipus im psychoanalytischen Kontext hinlänglich besprochen worden ist, lohnt es sich, Medea, die zauberkundige Tochter des Königs Aietes aus Kolchis, die (möglicherweise erst bei Euripides) ihre Kinder tötet, um sich an dem Ehemann zu rächen, der sie zur Königin gemacht hat, mit Livia Soprano und deren versuchtem Auftragsmord an ihrem Sohn Anthony, genannt Tony, zu vergleichen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Tonys Vater nicht mehr lebt und eine Rache an diesem höchstens als unbewusster Auftrag in Frage kommt, den Livia vom Vater auf den eigenen Sohn verschiebt, aber nicht an ihn weitergibt, sondern für sich selbst behält und anstatt den eigenen Mann, den eigenen Sohn töten möchte. Zudem ist Corrado Soprano alias Tony’s Onkel Junior als Verschwörer mit von der Partie und dessen Motiv für den Mord am Neffen aus wirtschaftlichem Kalkül, welches nicht durch die Gesetze des Talion gedeckt ist, aber dennoch mit einer Schande begründet wird, völlig anders motiviert. Livias Motiv kann nur in einem Tabubruch begründet liegen, der offenbar darin besteht, dass Tony seine Mutter in ein Altenheim abschieben will. Auch eines der ungeschriebenen Gesetze des Talion, über das sich die moderne Seite von Tony hinwegzusetzen versucht: die Figur der Mutter ist unumstößlich.
Man kann sagen, dass das Talion ein vorbewusstes, implizites Rechtsprinzip darstellt, dessen Systeme inzwischen als Selbstjustiz seinerseits in ein Rechtssystem integriert ist, welches versucht, seine eigenen Wurzeln auszulöschen. Im über Jahrtausende zivilisatorisch gewachsenen Norden Europas hat es dadurch an Boden verloren – ganz im Gegensatz zur US-Gesellschaft, die durch kriegerische Auseinandersetzung in allen Teilen der Welt deutlich massiver und wiederholt mit diesem kulturellen System in Berührung gerät – etwa in Afghanistan oder dem Irak. Zieht man in Betracht, dass der pathologische Narzisst Tony als ödipal fixierter Sohn gegen die ambivalente Gesetzlosigkeit einer begehrenden Mutter antritt, die ihrerseits unentwegt Gerechtigkeit für sich selbst fordert, und dieser Kampf letztlich keinen Sieger findet, lohnt es sich zu fragen, welche Konsequenzen dies für die Konzeption vom Urvatermord als Ursprung allen Schuldbewusstseins, und für die Grundlage sozialer Organisationen, sittlicher Einschränkungen und der Religion mit sich bringt. Variante 1: Nimmt man die Kindstötung nicht als GEBOT mancher Gesellschaften (etwa der Mädchen im indischen Kulturkreis oder deren gezielte Abtreibung in Osteuropa), sondern in unserer Kultur als Tabu an, so stellt die narzisstische Kränkung durch die Mutter, die ihr erwachsenes Kind zu töten versucht, und damit ihre eigene Befindlichkeit über die des Kindes stellt, ein Symbol dessen dar, woran die narzisstisch aufgeladene, mediale Gesellschaft krankt. David Chase versteht die Sopranos nach eigenem Bekunden als Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass die Mafiosi, die ihm zufolge die Selbstsucht erfunden haben, von dem überfordert sind, was die Gesellschaft aus dieser Egomanie gemacht hat. Sie können sich selbst nicht mehr ertragen, denn der Rest des Landes hat sie, die Mobster, in Sachen Selbstverliebtheit längst überrundet. Das ist es, was Tony in seiner ersten Therapiesitzung beklagt. Sein Versuch, die Mutter in einem Altenheim unterzubringen, ist nun gleichermaßen Ursache wie Konsequenz dieses Egoismus und zugleich der Versuch, den narzisstischen Kreislauf zu durch- und dabei ein Tabu zu brechen: das Tabu der Mutter, die einerseits im Zentrum ihrer Familie steht, die andererseits aber Willkür vor Recht ergehen lässt. Ihre Überwindung markiert den Ursprung der Zivilisation, denn auch Tony vermag es nicht, seine Mutter zu töten. Stattdessen behauptet er, nachdem er herausfindet, dass sie den Killer auf ihn ansetzte, dem er entkommt, sie sei für ihn gestorben.
Im Mythos der Medea des Euripides liegt also ein Generationenkonflikt ebenso verborgen wie ein Geschlechterverhältnis. Denn letztlich müssen die Kinder für den Vater herhalten, wenn es um die Rache der mordenden Mutter geht. Am Vater kann sich Livia nicht persönlich rächen, und so projiziert sie ihren Hass auf den Sohn. Der Medea-Mythos spukt offenbar vor allem aufgrund der symbolischen Zuschreibung (der Kindsmörderin) durch die Sopranos-Literatur, ohne dass der mütterliche Mord am erwachsenen Sohn als ein zivilisatorischer Konflikt entschlüsselbar wird, der eine eigenständige Dynamik zeigt, die nur zum Teil von der Medea-Mythologie gedeckt ist, solange das Ringen um die Zivilisation nicht als deren Kernaussage herausgearbeitet wird. Im Unterschied zu Ödipus, dem Vater-Mörder und Selbstverstümmler, begehrt das T-Subjekt seine Mutter nicht, und wird daher nicht aufgrund eines eigenen Inzest-Wunsches zum Bruder seiner eigenen Mutter. Vielmehr empfängt er von seiner Mutter den unbewussten Auftrag, sein eigener Vater zu werden, der das innere Kind gegen das Begehren der Mutter schützen muss. In dieser Konstruktion liegt das Inzestverlangen bei der Mutter, nicht beim Kind, das sich umgekehrt in die Lage gedrängt sieht, sich dieses Inzests zu erwehren.
Interessant ist in der 2. Variante entsprechend die Hereinnahme der Rolle der Mutter in die Spekulation über den Urvatermord. Die ambivalente und aggressive Verstrickung Livias in den Mafiaclan macht sie zur Urheberin und Klammer der symbolischen Ordnung der Subjekte. Tony versucht nicht, seinen Onkel zu ermorden; diesen hat er faktisch längst entmachtet, ohne ihn töten zu müssen. Als Sympathieträger vergeht er sich nicht an den Schwachen, die in der Hierarchie über ihm stehen, sondern an den Starken und den Verrätern (Big Pussy kooperiert mit dem FBI). Geht man mit Freud, so ist die Mutter des Clans nach dem Mord der Brüder am Vater die Instanz, an deren Trauer sich das schlechte Gewissen der Mörder herausbildet. Im Falle der Sopranos verhält es sich anders, denn Livia ist nicht in der Lage zu trauern. Stets unzufrieden und vorwürfig, stellt die drohende Vertreibung aus dem Haus, in dem sie mit Tonys Vater Johnny Boy bis zu dessen Tod durch ein Aneurysma lebte, für Livia offenbar jene narzisstische Kränkung dar, die das Fass genau in dem Moment zum Überlaufen bringt, als Tony mental zusammenbricht. Würde Tony sie erfolgreich ins Altenheim abschieben, verlöre sie ihn als jenes inzestuös-symbiotische Objekt, das ihr den Ehemann ersetzt an der Grenze zur Zivilisation, die ihre Mütter in einem Zelt versammelt und damit das Prinzip Familie und Behausung entknüpft. Die alternde, maligne Hysterikerin, der nichts recht zu machen ist, die ihren Ehegatten als Heiligen verklärt und Corrado „Junior“ in dessen Klage über den Verfall der Sitten beipflichtet, lässt sich als machtvolle und rachsüchtige Mutter und damit als Gegenstück zu den entflogenen Enten deuten, die Tony so lieb gewonnen hatte. Livia ist, ganz im Sinne Zizeks, das Symbol des unmöglichen Genießens – des mütterlichen Inzestwunsches, der den Sohn dazu zwingt, sich zu seinem eigenen Vater zu machen.
Diese Konstellation baut in den ersten beiden Staffeln der Serie ein interpersonelles Gleichgewicht auf, das auch im Falle von Livia und ihrer defätistisch aufgeladenen Verlustangst auf einem Symbolisierungsmangel basiert – dem des liebenden, sorgenden Vaters als Oberhaupt der Familie. Livia blendet in ihrer Idealisierung aus, dass der Vater sie ebenso betrog wie Tony seine Frau Carmela. Die Unmöglichkeit der Beziehung zwischen den beiden wichtigsten Frauen im Leben des Protagonisten wird in der Therapie des Gangsters allerdings nur am Rande beleuchtet – womöglich, weil die Therapeutin versucht, diesem eine bessere Mutter zu sein und Tony so in einer späteren Staffel dazu verleitet, sie für eine bessere Ehefrau zu halten. Dessen ungeachtet scheint Livia in der ödipalen Perspektive den Sohn für sein ausbleibendes sexuelles Begehren der Mutter nur dadurch bestrafen zu können, dass sie ihn – und nicht das eigene falsche Selbst – auslöschen lässt. Vor allem aber übernimmt die tötende Mutter die Rache des eifersüchtigen und strafenden Vaters, der von der Bruderhorde umgebracht worden ist, und macht sich dadurch auch zu einer Jokaste, die ihr Schicksal als Mutter und Geliebte des Ödipus selbst in die Hand nimmt. Allein ein schlechtes Gewissen scheint ihr im Gegensatz zu Tony fremd zu sein. Livia Sopranos Angst ist im Kern also die selbe wie die von Tony und damit die, die Tony als Resultat einer projektiven Identifikation in seinen Panikattacken heimsucht: die Panik der Horde, von der Familie getrennt und vom Clan ausgestoßen zu werden. Von der Unterwelt, in der er lebt, zum menschlichen Tabu des Unberührbaren erhoben, erfährt Tony nach dem gescheiterten Auftragsmord gegen Ende der ersten Staffel vom FBI, wem er den Anschlag auf sein Leben zu verdanken hat. Jetzt richtet sich seine Wut gegen die Mutter. Doch deren Tabu-Wirkung ist so stark, dass er von Vergeltung – die nur den Mutter-Mord bedeuten kann – kurz vor dem Ziel wieder ablässt. Hätte er vor seinem Vater halt gemacht?
Glaubt man Freud, können hier zumindest Zweifel angemeldet werden. Das Tabu der Mutter ist so stark, dass er sich entscheidet, sie für sich für tot zu erklären, und sie damit am Leben läßt. Der Abwehrmechanismus der Leugnung scheint aus einem übermächtigen Tabu zu entspringen. Die inzestuös-destruktive Mutter-Sohn-Konstruktion der Sopranos steht also nicht Widerspruch zu Freuds Kulturtheorie von der vatermordenden Bruderhorde, sondern ergänzt diese um die Funktion der Mutter, so dass ein Dreieck zwischen Vater/Sohn, Mutter und Bruderhorde entsteht. Bei Freud geht es schließlich auch um die Entwicklung von Schuldgefühlen, die nach therapeutischer Erfahrung häufig auf eine Mutter zurückzuführen sind, die eigene Schuldgefühle abwehren muss, um ihr Selbst nicht zu verlieren. Allerdings halten Tonys Panikattacken auch nach Livias Tod an – den der Sohn äußerlich gelassen aufnimmt. Erst in der 9. Episode der fünften Staffel erfahren wir etwas über die erste Panik-Attacke, die sowohl in einem Streit mit der Mutter, als auch in Schuldgefühlen gegenüber seinem Cousin wurzelten, welchen er später selbst gezwungen wird zu erschießen, damit es niemand anderes tut. Die Serie verdient es, bis zu diesem Punkt verfolgt zu werden, denn mit der Zeit wird deutlich, dass das Schicksal der Bruderhorde darin besteht, dass sich die Söhne der Medea auch gegenseitig umbringen müssen, bis einer von Ihnen den unbewussten Inzestwunsch der Mutter erfüllt hat und zum Paten, dem Vater des Clans aufgestiegen ist, wenn er all seine symbolischen Brüder ermordet und alle Frauen außer der eigenen Mutter besessen hat. Wer bis hierhin gekommen ist, wird, so das ewige Gesetz der Serie, auf den Rest nicht verzichten wollen.
FAZIT
Die in TV-Serien erzählten Familiengeschichten werden im Falle der Sopranos um die Psychotherapie des zentralen Charakters erweitert. Symbolische Verflechtungen nachweisbarer mythologischer Motive von Medea, Ödipus und Narziss bleiben in der Psychotherapie von Tony Soprano bei Dr. Melfi ungedeutet. Im Anschluss an Zizeks Differenzierung von angewandter und kulturtheoretisch deutender Psychoanalyse wurde greifbar, dass es die Löcher im Bewusstsein des inneren Konflikts des Protagonisten sind, die den Plot jeder einzelnen Folge vorantreiben. Das Symptom der Panik des aufstrebenden Gangsters ist an das Verschwinden eines phallisch-inzestuösen Signifikanten geknüpft. Das Begehren der Analytikerin scheint auf die Verdunkelung der Übertragungsinhalte abzuzielen, und damit darauf, dem antisozialen Patienten eine bessere Mutter zu sein. Von Beginn an konspiriert sie mit ihm, und auch wenn sie sich nicht verführen lässt, gelingt es ihr in Ansätzen, mit Tony über seine Mutter zu sprechen, ohne dass dies zu einer substantiellen Veränderung seines verbrecherischen Tuns führen würde. Im Verlauf der Serie wird er immer mehr zum Brudermörder, um letztlich den Status des symbolischen Vaters zu erlangen, der seinen Clan in die Zivilisation führt. Entsprechend ist er am Ende zwar mit einem Über-Ich ausgestattet, das an der Grenze von Zivilisation und Clangesellschaft in der Lage ist, beide miteinander in sich zu vereinen. Er steht damit zwar nicht länger unter dem Scheffel der inzestuösen Mutter, die befiehlt, um jeden Preis zu genießen, doch er wird an diesem Punkt trotzdem nicht mehr aufhören können, ihrer mörderischen Logik zu folgen. Man muss es mögen, in so etwas hinein gezogen zu werden. Die Sopranos geben dem Zuschauer nämlich niemals, was er begehrt, zeigen ihm aber auch nicht, wie er begehren soll. Sie verhindern, dass er den Zusammenhang von Objekt und Weg des Begehrens erkennt und versetzen ihn dadurch niemals in die Lage, sich bewusst zu machen, dass seine Unmöglichkeit zu begehren anhand einer fiktiven Therapie stets unbewußt bleiben muss. Möglicherweise ist es nicht nur die Unfähigkeit zu trauern, die dem deutschen Publikum den Zugang zu einer solchen Struktur verwehrt. Vielleicht ist das Prinzip der modernden Bruderhorde in Deutschland als nationalem Gefüge auch historisch noch nicht lange genug überwunden, um sich der Figur der inzestuös begehrenden Mutter als unbewußtem Objekt gedanklich zuwenden zu können, und genau diesen Konflikt der unterschiedlichen Systeme des Über-Ich genüßlich vor dem inneren Auge vorbei ziehen zu lassen, ohne befürchten zu müssen, die Affekte, die dabei entstehen, umgehend zu agieren. Es erfordert ein hohes Maß an Ambivalenztoleranz, sich dem auszusetzen.
LITERATUR
Chase, David (1998 – 2007): The Sopranos. New York, HBO. (Sieben Staffeln, auf DVD erhältlich)
Diedrichsen, Dietrich (2012): The Sopranos. Zürich, Diaphanes.
Fiennes, Sophie (2006): The Pervert’s Guide to Cinema. London, Lone Star, Mischief Films, Amoeba Films. (auf DVD erhältlich (bei Zweitausendeins))
Fink, Gerhard (1993): Who is who in der antiken Mythologie, München, dtv.
Freud, Sigmund (1913a/1974): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. hgg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey). Frankfurt / Main, Fischer, S. 287 – 444.
Ders. (1913b/1974): Zur Einleitung der Behandlung. In: Ders. (1969 – 1975): Schriften zur Behandlungstechnik (Studienausgabe, Ergänzungsband, hgg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey). Frankfurt / Main, Fischer, S. 181 – 203.
Gabbard, Glenn O. (2002): The Psychology of the Sopranos. New York, Basic Books.
Zizek, Slavoj (1991): Liebe dein Symptom wie dich selbst. Berlin, Merve.
Englische Synopsis
Real extortion, symbolic murderer and secrets of the imaginary – the US-TV-Series „The Sopranos“ Protagonist of the US-TV-Series „The Sopranos“ is an italian-american mobster-boss from New Jersey who seeks the professional help of a likewise italian-descending female psychotherapist. Very popular amoung educated anglosaxon viewers, the Sopranos-series is taken as an example to examinate the importance of TV-series as cultural phenomena in clinical routine. Theoretical backgrund are the terms of psychoanalytical film-interpretation by lacanian philosopher Slavoj Zizek. Obviously, TV-Series have structural similarities with certain forms of therapy themselves, but in case of the Sopranos, they are more. Considering the fact that in the Sopranos therapy itself is represented in a way which influenced positively the public opinion of psychotherapy, a TV-therapy thus may be role model for potential patients. The representation of the antisocial main character Tony Soprano is narrated in a peculiar way which in it’s specific psychological dynamics can be linked to the cineastic work of Alfred Hitchcock. The faliure of the sopranos in german-spoken television is being dicussed in the context of Freuds cultural theory of taboos broken in the Sopranos and their way to oscillate between two different levels of the super-ego. Is there anything realistic or comprehensible in this way of the series to show characters and thus interesting, relevant or even instructive to future psychoanalysts?
(c) Jan van Loh, Mai 2015
Jan van Loh studierte Psychologie, Geschichte und Kulturwissenschaften in Berlin, Madrid und Rosario, Argentinien. Dissertation zum Verhältnis von Psychoanalyse und neuen Medien an der HU Berlin. Tätigkeit als Dramatiker und Librettist. Ausbildung zum tiefenpsychologischen Psychotherapeuten und Supervisor. Lehrtätigkeit an Hochschulen und psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten (IPU Berlin, BAP, HU Berlin). Dramaturg im Feld Musiktheater. Regisseur und Produzent des Dokumentarfilms „La demi-vie de la mémoire“ über die Person und Theorie von Friedrich A. Kittler. Themenschwerpunkte: Technische Bewusstseinsmedien, Geschichte der Psychotherapie, Psychotherapieforschung, Psychodynamik der Teilleistungstörungen, Darstellung von Psychotherapie in Fernsehserien.