Was ist Filmdramaturgie – worüber diskutieren wir hier? – von Kerstin Stutterheim
Man liest den Begriff gelegentlich in Kritiken, da habe die Dramaturgie versagt oder sie sei besonders gut gelungen. Seit Jahren flammt im praktischen Filmbereich immer wieder eine Diskussion um Dramaturgie, Erzählweisen, Narration oder ‚storytelling’ auf. Gefordert wird mehr und bessere Dramaturgie. Geprägt ist die Diskussion vor allem durch zwei Aspekte: die alltagssprachliche Adaption dramaturgischer Begriffe, die diese auf ihren affektorientierten Gehalt reduziert. Der andere Aspekt beruht auf übersetzungsbedingten Abweichungen aus den US-amerikanischen Drehbuchratgebern, deren Begriffe und Definitionen oft unhinterfragt und blind übernommen werden. Über eine vor allem in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmenden Entfernung von wissenschaftlicher Reflektion und künstlerischer Praxis verändernde sich der Sprachgebrauch und damit Implikationen, die ebenfalls unterschiedlichen Begrifflichkeiten der beiden Territorien – anglo-amerikanischer Raum und Mittel-/Nordeuropa – beigetragen haben.
An der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ gibt es seit Jahrzehnten einen Studiengang Drehbuch/Dramaturgie und einen entsprechenden Lehrstuhl, der sich seit 2006 der Dramaturgie und Ästhetik audiovisueller Medien widmet. Aus dieser Lehrpraxis und unserer eigenen Praxis als Dramaturginnen / Autorinnen / Filmfrauen heraus können dramaturgische Möglichkeiten praxisnah und aktuell diskutiert werden.
Aber was ist nun Dramaturgie?
Dramaturgie ist eine über Jahrhunderte tradierte praxisbezogene Wissenschaft, die sich dem „Geheimnis des Erzählens“ (Jean-Claude Carrière) widmet. Filmdramaturgie richtet sich auf alle Facetten der Filmsprache, denn nur dann kann das Geheimnis der Erzählens seine volle Wirkung entfalten.
Gleichermaßen kann man mit Hilfe von dramaturgischem Wissen analysieren und erläutern, was ein das Publikum unterhaltendes und anregendes narrativ-performatives Werk ausmacht. Man kann Dramaturgie als eine auf der Ästhetik beruhende Dialektik des darstellenden Erzählens verstehen. Die Begriffe und Kategorien werden in der ästhetisch-dialektischen Analyse mit dem konfrontiert, was mit ihnen ausgedrückt wird, und so stets in der Praxis überprüft. Mit Adorno gesprochen ist Dialektik ein Denken, dass sich nicht mit der begrifflichen Ordnung begnügt, „sondern die Kunst vollbringt, die begriffliche Ordnung durch das Sein der Gegenstände zu korrigieren.“ Diese Gegensätzlichkeit besteht darin, dass es sich nicht um eine bloße Kunst der Operation und der darin liegenden Möglichkeit der Manipulation handelt, sondern stets die Willkür der Methode hinterfragt, um der Besonderheit des Gegenstands mit der Begrifflichkeit gerecht zu werden.
In der Praxis kann Dramaturgie helfen, Kreativität zu entfalten – in der Begleitung eines Projektes von der Idee bis zum letzten Tag der Postproduktion. Dramaturgie widmet sich allen Facetten der Filmsprache, nicht nur dem Drehbuch.
Dramaturgen sind dabei nicht die besseren Autoren, sondern finden sich in das Projekt ein und unterstützen dies gemäß der in ihm angelegten Grundidee, geplanten Handschrift usw.
Im Sprachgebrauch einer guten Dramaturgin gibt es kein „Du musst“, eine Dramaturgin macht Vorschläge, fragt nach und kann vor allem die Folgen antizipieren, die sich aus den künstlerischen Ideen und geplanten Schritten ergeben.
Dramaturginnen unterstützen ein Werk, überschreiben oder verformen es nicht. Wenn sie gute Arbeit geleistet haben, dann fragt man sich am Ende des Films, wieso man die häufig als Dramaturgie bezeichnete Bauform nicht bemerkt.
Kerstin Stutterheim, Nov 2011
1) Adorno, Theodor W. Einführung in die Dialektik. Berlin: Suhrkamp, 2010. S. 10